Die wohlmeinende Ernährungsdikatur
nimmt jetzt die Senioren ins Fadenkreuz

Zu viel Fleisch, die Lieferdienste bieten keinen Salat oder Rohkostmahlzeiten an, keine täglichen vegetarischen Mahlzeiten, es ist ein Kreuz...

Ich frage mich, ob Rohkost so viel Spaß macht mit Dritten Zähnen. "Leckeres Essen" ist nicht nur subjektiv, es ist auch noch generationell geprägt. Man findet wenige Fans von Pizza und Döner unter den Kunden von "Essen auf Rädern" oder auf den Pflegestationen der Altenheime. vegetarisch riecht eher nach dem mangel der Nachkriegszeit als nach leckerem Essen, selbst wenn es angeboten wird, klingt "königsberger Klopse" für viele ältere Menschen leckerer als "Pasta mit Gemüsesauce", also verschwindet es mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann vom Speiseplan- es sei denn, ein wohlmeinender Ernährungstotalitarist (zBin Person einer Krankenschwester mit Ernährungsberaterinnenzusatzausbildung, ich habe da mittlerweile einige kennengelernt, bei denen ich dankbar war, ihnen nicht unbegrenzt ausgeliefert zu sein) setzt es auf den Plan und macht die Alternativen "noch schlimmer".


Ich habe eine Großtante, deren Evakuierungsheim im Zweiten Weltkrieg zum Ende hin nicht mehr mit Nahrungsmitteln beliefert wurde. Das Kinderheim sollte eigentlich weiterevakuiert werden, das klappt nicht, weil die Züge nicht mehr so fuhren wie sie sollten, man hat die Kinder schlicht vergessen. Es ist zum Glück kein Kind verhungert, aber die Tage ohne Nahrung haben meine Großtante geprägt. Hunger ist eine der elemetarsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann, sagte meine Volkskunde-Dozentin als die Sprache auf schichtspezifische Ernährungsgewohnheiten kam und das für Menschen der Kriegsgeneration "wir haben noch jede Menge Kekse und Pizza" keine Beruhigung ist, wenn sie sehen, daß die Brotklappe leer ist.
Jedenfalls hat meine Tante Diabetes. Ein paar selbererklärt schlaue Verwandte, die sich supertoll auszukennen meinen, lästern immer ziemlich heftig über sie weil sie ja "so gar keine Disziplin" habe und Schokolade ißt.
Ich denke mir: Tante G., du bist jetzt ein bißchen unter 80. Du hast immer sparsam gelebt, deine Familie hat in einer 2 1/2 Zimmer Wohnung gewohnt, dein großes Abenteuer war, wenn du einmal im Jahr deine Schwester besucht hast und es dann einen Abend Fruchtwein gab und ihr 30er und 40er Jahre Schlager gesungen habt. Was bitte beschwert sich irgendwer, wenn du auf deine alten Tage Schokolade ißt oder jeden Tag Fleisch in der Pfanne landet?
Ja, du könntest weniger wiegen, aber warum solltest du? Du hast jetzt den Hund, den du dir gewünscht hast und mit dem du spazierengehst, und dein Leben ist gut. Du bewegst dich also, fährst noch Fahrrad und irgendwer will rumhupen wenn du dir nachmittags mehr Insulin spritzt als du mußt? Solange du das Zeug nicht überdosierst, hast du meinen Segen, auch wenn du ganz gut ohne auskommst.
Du hattest als Kind ernsthaften Hunger- wenn du jetzt dein Brot mit Butter und Leberwurst schmierst, dann freue ich mich, daß es dir gut geht. Das wird dein Leben wahrscheinlich verkürzen. Das finde ich schade. Aber noch schlimmer fände ich, wenn du "verzichten" müßtest auf etwas, was dir dein Leben schön macht.
Ja, du warst früher mal schlanker. Das sehe ich auf Bildern, die euch Schwestern alle zusammen zeigen. 2 deiner Schwestern und dein Bruder sind tot.
Früher gab es auch nur sonntags Kaffee&Kuchen und nur manchmal Schlagsahne. Wenn dein Leben heute jeden Tag ein Sonntag ist- freu dich dran!

Ich hoffe, dir schmeckt es.

Jenny Joseph hat dazu ein wunderschönes Gedicht geschrieben.


Wenn ich alt bin, werde ich mich auch ganz furchtbar unvernünftig aufführen, Krams essen, der ungesund ist und vielleicht habe ich dann sogar wieder eine grüne Strähne im Haar!
Jüngere Verwandte dürfen sich dann über meinen völligen Mangel an Disziplin beschweren. Ich werde dadrauf eine Tüte Gummibärchen erledigen- wenn es dann noch legal ist, dermaßen viel Zucker in einer Packung zu verkaufen. Notfalls finde ich meine kriminelle Energie und besorge sie mir auf dem Schwarzmarkt!




loco-just-loco am 17.Dez 12  |  Permalink
Ich komm ja rum, speziell bei alten Leuten - und ich muß sagen, es ist eigentlich wünschesnwerter, zufriedene 80 zu werden als leidende 100.
Aber ich seh auch, daß nur Leute, die zufrieden sind mit ihrem Leben, auch im hohen Alter noch zuhaus sein können und aktiv. Wie gestern eine Frau beim Gemeindeessen sagte: "ich nehm drei Stück Zucker in den Kaffee. Soll man ja nicht, aber ich mag das so." Die Frau hat recht - und mit der Einstellung und einem sonnigen Gemüt ist sie 94 Jahre alt, selbständig und hütet noch die Gören der Nachbarschaft.

Abwegige Idiotie im Nachbardepartement: da sind Altenwohnungen angeblich nicht mehr normgerecht, man will eine Hundertjährige umsiedeln ins Pflegeheim. Die will aber nicht, und recht hat sie!

cassandra_mmviii am 17.Dez 12  |  Permalink
Ich habe im Studium bei einem ambulanten Pflegedienst (also als Haushaltshilfe, harharhar) gearbeitet und zumindest damals gingen "moderne" Gerichte eher schlecht. Die Klassiker kamen immer gut an, aber was ein "Veggie-Day" sein soll, erschloß sich der Generation nicht unbedingt von selbst.

Um im Pflegeheim-Bericht gut dazustehen, muß "Wahlessen" angeboten werden, was definiert ist als 2 Gerichte zur Auswahl. Klingt erst mal okay, aber wenn zur Wahl "Frühlingsrolle süß-sauer" oder "vegetarische Lasagne" stehen (nur als Beispiel) ist beides nicht wirklich biographiegerecht.
In der Wohngruppe zusammen kochen (und vorher entscheiden, was es geben sollte) war aber nicht vorgesehen, brachte also Minuspunkte.

Ich las letztens was über den Ansdatz, gerade demwente Menschen über Essen zu erreichen, und da kommen wohl Kindheitsgerichte sehr gut an, sie sind vertraut.

Das Eßverhalten hat sich in den letzten 50 Jahren gründlich umgekrempelt, mein Opa bestand immer drauf, daß es "mal wieder" Eintopf geben müsse- so jeden 2. Tag :-)
Eintopf war Alltagsessen, alles andere was für sonntags, in der Woche Huhn zu essen, war in seinen Augen einfach nur Verschwendung. Das war ok wenn man krank war, oder Kind oder sonst eine gute Erklärung hatte,a ber sonst ging das einfach nicht.
Mit Pizza konnte er (trotzdem er mir noch fast allen eigenen Zähnen starb) nie was anfangen. Nudeln ging so, aber auf keine Fall Tomatensauce.

Wenn also so eine alte Dame oder ein alter Herr beschließt, die Nummer mit der Sparsamkeit weniger streng zu sehen und sich echt was zu gönnen und auf ihre alten Tage mal locker zu machen- ey, wer macht das zu seinem Problem und mit welchem Recht?


Ich gönne der Dame ihre drei Stück Zucker (naja, im Moment beneide ich sie eher...), meiner Großtante was auch immer sie jetzt grad nascht und der 100jährigen ihre Wohnung. Zwangsumsiedlung... tsk.