Wenn man vor der wahl steht, entweder bei seinem Kinderarzt als grenzhysterisch durchzugehen oder seine Haushaltshilfe zu entsetzen, rate ich zu letzterem. Mit Ihrem Kinderarzt wollen sie im Zweifelfall noch ein paar Jahre auskommen.
Erste Frage beim Reinkommen: war ich mit den Kindern beim Arzt?
Warum nicht? Ihre Tochter ist da immer "sehr genau". Die Kinder sind doch krank. Warum laufen die eigentlich rum? Die müssen in's Bett.
Ich (ich bin echt zu geduldig): kein weiteres Erbrechen, kein Fieber, kein Durchfall, alles in Ordnung, vielen Dank für die Sorge, aber der Tiger ist gesund, der macht heute nur mal einen Tag kindergartenblau.
Mini-Tiger ist ebenfalls gesund, hustet ein bißchen, aber der halbe Kindergarten bellt, das ist im Winter manchmal so.
Mißbillender Gesichtsausdruck. Aber wenn nun doch was ist?
Dann fahren wir notfalls morgen in die Kinderkliniksambulanz, da waren wir schon über ein Jahr nicht
mehr, ich vermisse die Leute langsam. Aber Ausflüge in die Ambulanz halte ich für so unwahrscheinlich, daß mir nicht mal einfällt, wie unwahrscheinlich.
Ihre Tochter hat so was nie auf die leichte Schulter genommen, wenn Kinder krank sind, muß man sich doch drum kümmern. So ein Infekt kann sich ja hinziehen.
Ich (definitiv zu geduldig): ich denke nicht, daß das ein Infekt war. Kleiner Tiger hat sich mit seinem Kumpel gestritten das schlägt ihm fix auf den Magen, aber die beiden werden sich schon wieder einrenken.
Sie: "Ja, dann ist es was psychisches"
Ich (Geduld war plötzlich weg): das ist jetzt ein ziemlich großes Wort für zwei Mal Erbrechen.
Den Nachmittags über fühlte sie dauernd Stirn nach Fieber und fragte, wie es den Tigern geht. Kleiner Tiger hat begriffen, wie die krank-Nummer funzt, und verlangte erst nach Tee und Zwieback, danach nach dem Fernseher und Schokolade. Außerdem war er viel zu krank, um seine Spielsachen wieder wegzuräumen.
Bevor ich mit zwei Kindern, die gesund sind, beim Arzt auftauche und mit Kinder, die irgendwelche lustigen bunte Punkte plus Fieber und Aua haben wiederkomme, lebe ich mit dem mißbillenden Gesichtsausdruck einer temporären Hilfskraft. Mit dem Kinderarzt will ich die nächsten grob 15 Jahre noch zurechtkommen ohne mir den Ruf einer Mama, die mit jeder laufenden Nase ankommt, einzufangen. Dann wird man nämlich nicht mehr ernst genommen wenn mal echt was ist.
Kleiner Tiger übt Schreiben. Da er ja superkrank ist (harharhar), liegt er jetzt auf dem Sofa und hat das Scrabble-Spiel bei sich. Gerade brach er in den Begeisterungsschrei "Mama, ich kann Klo schreiben!" aus.
Super....
"Hauptsache gesund" sagt eine bestimmte Generation Mitmenschen gern angesichts meines Bauches, oft gefolgt davon, daß Gesundheit überhaupt das wichtigste sei.
Nun will ich, geplagt durch allerlei Wehwehchen, überhaupt nicht bestreiten, daß Gesundheit definitiv etwas sehr wünschenswertes ist. Wer einmal längerfristig ernsthaft krank war, wird das kaum bezweifeln.
Und wer ein dauerhaft krankes Kind hat, leistet oft unglaubliches und verdient dafür Anerkennung, Hilfe und moralische Unterstützung.
Aber was wenn...?
Was wenn das Baby in meinem Bauch nicht gesund wäre, sondern behindert? Was wir bereits jetzt wüßten, daß es Trisomie 21 oder einen Herzfehler hat?
Für uns steht fest: wir kriegen das Kind trotzdem. Diesen ganzen Pränataldiagnostik-Kram, den wir in den 3 Schwangerschaften vorher nicht gemacht haben, nahmen wir relativ locker. Wann geht man schon mal zum Spezialarzt und das Ergebnis hat erst mal keine Auswirkungen?
Wie fühlt sich eine Mutter, in deren Bauch ein nicht-gesundes Kind wächst, wenn sie hört "Hauptsache gesund"?
Und mein Kind ist dann nicht Hauptsache?
Ich habe relativ viel Unverständnis aus der Verwandtschaft bekommen als wir nicht die komplette testreihe durchziehen wollten.
"Du bist doch schon über 35"
"Ihr habt doch schon drei"
"Das Risiko geht doch kein vernünftiger Mensch ein, wenn man da was ändern kann, tut man es, man will doch, daß es dem Kind gut geht"
So ein Test ändert nichts. Er stellt nur fest. Klar will man, daß es dem Kind gut geht, aber dafür gibt eine Grundvorraussetzung: es ist am Leben. Und das sind zu viele Kinder, bei denen "Hauptsache gesund" nicht zutraf, nicht.
Eltern, deren Kind nicht "Hauptsache gesund" ist, werden schnell in die "selber schuld"-Ecke gestellt. Sie hätten es ja auch anders, leichter haben können. Sie sind nicht Teil der pseudohedonistischen Wohlwohlkultur von "Hauptsache ich", sondern sie tun etwas, was man ungern hört: sie stehen zurück.