Der Geist des Kapitalismus
In der Kulturanthropologie (naja, der deutschen, Kulturanthropologen mit anderem historischen Rucksack oder Forschungsgebiete mit anderem, zB stärker kolonialem Rucksack, sehen da andere Baustellen) gibt es ein paar Antworten, die man immer geben kann.

- liegt an der Reformation
- liegt an der Industrialisierung
- Nazi-Zeit
- 1968

Ich hielt vor Urzeiten ein Referat über den Wandel der deutschen Linken von "sauber" zu "dreckig" bei einer Gastdozentin. Die Lehrstuhlinhaberin kriegte das mit und meinte auf dem Flur, das sei interessant, wie denn die Kurzzusammenfassung sei? "waren mal nicht die Nazis".


Und so frage ich mich immer noch, was davon auf die Niederlande und ihren doch eindrucksvollen Image-Wechsel zutrifft.

Wobei man sagen muß, daß die Industrialisierung ohne die Reformation so nicht machbar gewesen wäre. Nicht unmöglich, aber nicht so möglich.
Und '68 funktioniert ohne Nazis auch nicht, zumindest nicht in Deutschland.

Jedenfalls würde ich im Narrativ der Niederlande die Reformation und ihre Auswirkungen nicht wegreden wollen.

Die Kolonialzeit (die man wie bereits gesagt bei den Hoplländern weniger präsent hat, aber deren Kolonialreich war auch nicht ganz so klein) sieht man heute vor allem als recht bunte Mischung in den größeren Städten und als klare Bereicherung des niederländischen Speiseplans, aber Ziel war in erster Linie Wohlstand des Mutterlandes bzw des Individuums und Kolonialmacht als Selbstzweck, nicht so sehr der Import von pindakaassos
Auf dem Gebiet des Seerechtes kommen aus Holland ordnende Impulse, die stehen dem Handel (Ziel: reich werden) aber nicht im Weg.
Die Tulpenzucht als dezidiert nicht-adliger Gartenentwurf blüht in der Kaufmannschaft, die größtenteils protestantisch-calvinistisch ist. Sie ist schlicht, protzt nicht erfordert keine Repräsentationsbauten, die als Protz&Prunk abgelehnt werden. Protz&Prunk zeigt die Reformierte Kirche in Göttingen nicht, das Gebäude sollte nicht einmal wie eine Kirche aussehen, der Glockenturm ist arg klein geraten und es gibt 2 Fensterreihen, es sollte möglichst wie ein haus aussehen.
Albrecht von Haller, Botaniker, erhält im 18. Jahrhundert einen Ruf an die recht frische Uni Göttingen. Er könne nicht kommen, antwortet er, da es keine reformierte Gemeinde gäbe. Der König hilft ab und stiftet die "ReFo" in Göttingen. Als kleiens Zugeständnis erhalten die königlichen Söhne, welche in Göttingen studieren, einen herausgehobenen, erhöhten Extra-Platz in der Gemeinde (erklärte mir die freundliche Kirchenführerin). Haller entwickeltet die Präformationstheorie (jeder Mensch ist bereits als Mensch fertig im Körper der Mutter angelegt, so in der Art einer "Babushka", die lange als solide Theorie über Babies akzeptiert wird- der Vater "weckt" die Kinder nur.
Aber Göttingen liegt ja gar nicht in den Niederlanden :-)

Die Industrialisierung lassen die Niederlande nicht ganz aus, aber die britischen Exzesse fehlen (was echt nicht schade ist). Handel, Wissenschaft, Landwirtschaft und Seefahrt bleiben bestimmend, wo andere die Landschaft mit Fabriken vollstellen, hatten die Holländer schon vorher Windmühlen.
Da verhält sich das Land anders als England, daß trotz Kolonialreich Manchester hervorbringt.

Im Zweiten Weltkrieg fällt Holland unter die Nazis, aber so recht einen Fuß auf de Boden bekommen die da nicht. Völlig resistent waren auch die Holländer nicht.


Und heute?
Hat sich einiges geändert.




mark793 am 22.Nov 13  |  Permalink
Das Pendel schlägt jenseits des Sündenbabels Amsterdam ja zum Teil schon wieder in die andere Richtung. So multikulti-dreadlock-lustig geht es längst nicht überall in unserem sympathischen Nachbarzwergstaat zu.

Mir scheint, die gesellschaftliche Entwicklung der Niederlande in der Nachkriegszeit ist nicht zu erklären ohne den großen Stellenwert, den das Streben nach Konsens hat. Die vielgerühmte Toleranz ist gewissermaßen nie Staatsziel gewesen, sondern nur die mit eingehandelte Kehrseite der Medaille, dass es lange als unschicklich galt, Konflikte offen auszutragen oder auch nur allzu explizit anzusprechen.

Das war der Nährboden, auf dem sich ein Pim Fortuyn schließlich als Tabubrecher profilieren konnte, und im Grunde hat seine Ermordung das gesellschaftliche Gefüge tiefer erschüttert als sonst irgendein Ereignis der niederländischen Nachkriegsgeschichte, und soweit ich das sehe, profitieren davon vor allem Geert Wilders und seine Rechtspopulisten.

Das heißt jetzt nicht, dass die Niederlande innerhalb weniger Jahre vom Laissez-faire-Paradies die Wende zum restriktiveren Staat nach Vorbild von sagenwirmal Singapur oder der Ukraine vollziehen werden, es könnte aber auf eine stärkere Polarisierung hinauslaufen, hier das libertäre Sündenbabel Amsterdam und die anderen ähnlich gepolten Oberzentren, dort die piefigere Provinz mit den akkurat gepflegten Vorgärten, wo es spießiger zugeht als im Speckgürtel von Stuttgart. Und der Graben zwischen diesen unterschiedlich gepolten Milieus wird tiefer werden als man das bis dato dort kannte, es braucht keine übergroße Phantasie, um dich künftige gesellschaftliche Zerreißproben auszumalen.

cassandra_mmviii am 22.Nov 13  |  Permalink
Groningen, bei mir im Abi-Jahrgang beliebtes Ziel, hat ein Verbot für Nicht-Niederländer, in den dortigen Shops zu kiffen (oder Haschkekse zu essen oder wie auch immer) erlassen, keinen Bock mehr auf Drogentourismus.

Das gab irgendwelchen Zorres wegen EU, aber sie haben es trotzdem getan. Das wäre vor ein paar Jahren wohl noch undenkbar gewesen.

Sein Kolonialreich bekommt man nicht durch Nettigkeit zusammen.

mark793 am 22.Nov 13  |  Permalink
Ist hier in der benachbarten Provinz Limburg ähnlich, und zumindest den offenkundigeren Teil des Drogentourismus scheint die Maßnahme ja eingedämmt zu haben.

Finde den Artikel grad nicht auf die Schnelle, aber Frank Rieger vom CCC hat in der FAZ mal vor einiger Zeit über ein Datensammel-Projekt berichtet, wie niederländische Behörden Bürger, die mehrmals auffällig geworden sind, regelrecht drangsalieren mit gezielteren Kontrollen, ob das Auto auch nicht falsch geparkt ist undundund, die Betreffenden wissen in der Regel nicht mal, dass sie auf einer Liste stehen. Das ist ziemlich heftig und markiert eine klare Abkehr von der lange vorherrschenden Laissez-faire-Policy.

cassandra_mmviii am 22.Nov 13  |  Permalink
Ihre vielgerühmte Toleranz hatten die Niederländer schon seit dem 17. Jahrhundert. Als man sich anderswo die Köppe einschlug weil der andere nicht Bruder sein wollte, entspannte man sich in Amsterdam weit genug, um zwar den Katholizismus offiziell zu verbannen, aber Unser Lieber Herr Vom Dachboden ist nicht grad ein klassisches Priesterloch

Das mag man mit Toleranz erklären, aber das ist kein sehr verbreiteter Wert in der Frühen Neuzeit, sondern kommt als Ideal erst deutlich später auf.

cassandra_mmviii am 22.Nov 13  |  Permalink
PS. die Holländer sind die Erfinder des modernen Gefängnisses.

Die Körperstrafen guingen zugunsten des Abarbeiten zurück. "Raspelhuis" für Männer (Späne raspeln zum Räuchern und damit Haltbarmachen von Fleisch, größtenteils für den Verkauf als Schiffsproviant für Fernreisen), "Spinhuis" für Frauen.
Der Gedanke war
a) Wiedergutmachung
b) geregelte Arbeit als Charakterverbeserung (kam auch bei den Alki-Straßenfegern auf)
c) Alkohol (Branntwein) nur als Belohung für geleistete Arbeit. Die Zahlen von Leuten, die unter Alkoholeinfluß Mist gebaut hatten, war seitdem gebrannter Alkohol großflächig und leicht (= preisgünstig) verfügbar geworden war, nach oben geschossen.

zwetschgenkrampus am 25.Nov 13  |  Permalink
Drogentourismus und Niederlande:

Laut einer Zeitungsmeldung von vor einigen Wochen läuft der derzeit umgekehrt: Niederländer touren nach Deutschland auf der Suche nach der Dröhnung. Grund? Die niederländische Regierung hat die Steuern auf Bier erhöht.

Da vergessen dann auch die Niederländer busweise die "besondere Zuneigung" zum großen Nachbarn und fahren sich ihr Getränk dort holen. Da kann man dann gleich die Großeltern im Altenheim besuchen, viele von denen sind nämlich nach Deutschland geflohen, als daheim die Euthanasie legalisiert wurde.