Kompetenzgedöns
Eigentlich bin ich ja der Ansicht, dass Schuledurchaus ein paar Neuerungen gebrauchen kann. Aber dieses Kompetenzgewackele beginnt, mir gehörig auf den Sender zu gehen.

Vokabeln lernen war früher einfach: man lernte sie. Diskussion oder begreifen warum irrelevant. Die sprachhistorische Herleitung von "beam" aus dem Indoeuropäischen und die Verwandtschaft zu "Baum" dürfte die meisten Schüler mangels Indogermanischkenntnissen eher überfordern. Nun sollen sie verstehen und selber erschließen. Das führte dazu, dass ich heute nachmittag Notfall-Nachhilfe Französisch erteilte. Unsere eigentlich ganz helle Nachbarstochter "begriff" nicht, wie man Verben beugt. Als ich mit der bitteren Wahrheit rausrückte, dass es an "je suis" nicht viel zu verstehen gibt, das müsse man einfach lernen, gab es große Augen. Wie, einfach lernen? Da muß es doch ein System geben, welches die Lernarbeit erleichtere. Also ratterten wir das Verb rauf und runter.

Nö, machen sie nicht in der Schule. Mutter (selber Lehrerin) da ginge es eher ums Verstehen und Entwickeln.

Das war vielleicht völlig lernkompetenzunfördernd, aber sie kann nun Verben. Hurra!

Vokabeln lernen die auch nicht mehr "klassisch", sondern sie sollen das Wort aus dem Kontext "entwickeln". Das Prioblem: Mädel sitzt vor dem Satz und erkennt kein einziges Wort weil das Fundament fehlt.
Vokabeltests? Gibt es nicht mehr.

Ich finde das gesteigert unfair. Man drückt Kindern eine Verantwortung auf, für die sie noch nicht reif sind: alleine lernen.




sid am 04.Jan 15  |  Permalink
Die Schulen und Kinder, die ich so kenn, haben nach wie vor Vokabeltests. (Und jammern, aber so ist das halt - und was die Verbkonjugation angeht - manches muß einfach auswendig gelernt werden. Punkt. Gibt auch keine große Logik hinter: bin, ist, seid, sind. Dafür kann man halt dann bei andren Sachen durchaus mit einmal antrainierten Endungen sehr viel weiter kommen.)

cassandra_mmviii am 05.Jan 15  |  Permalink
Die Antwort heißt: Bremen. Steht ganz unten in den Bildungsvergleichen der Bundesländer, hält sich aber für den pädagogischen Vorreiter.

pathologe am 05.Jan 15  |  Permalink
Ist
es nicht generell so, dass diejenigen, die es am nötigsten haben, glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben?

cassandra_mmviii am 05.Jan 15  |  Permalink
Ganz stolz drauf, den bösen "Frontalunterricht" abgeschafft zu haben. Hier lernt jetzt jedes Kind in seinem Tempo.

Dann scheiden sich die Schafe von den Böcken: Elternhäuser mit einem Bildungsniveau, das Lernen erlaubt oder gar fördert (im Zweifelsfall durch einen illegalen Vokabeltest zu Hause) und Elternhäuser, die das nicht können.
So zementiert Schule Unterschiede.

zwetschgenkrampus am 06.Jan 15  |  Permalink
Unterschiede zementiert?
Ich denke, nur das herkömmliche gegliederte Schulsystem mit Hauptschule - Gymnasium - Realschule zementiert und vererbt Unterschiede über Generationen? Und moderne Pädagogik, die auf alle Kinder einzeln eingeht, in einer einheitlichen Schule natürlich, bricht diese Vererbung auf? Zumindest verkaufen uns das die Adoranten der Gesamtzwangsschule ("gemeinsame Schule für die 10- bis 14jährigen") ununterbrochen so.

Aber, 's ist wahr, vor Tische las man's anders ...

cassandra_mmviii am 07.Jan 15  |  Permalink
"Ich denke, nur das herkömmliche gegliederte Schulsystem mit Hauptschule - Gymnasium - Realschule zementiert und vererbt Unterschiede über Generationen?"

Da stehe ich, Tochter von zwei Hauptschülern, und gucke auf meine Bildungsbiografie zurück. Die letzten drei Jahre Schulzeit verbrachte ich tatsächlich in der Oberstufe einer Gesamtschule. Den Rest dreigliedrig.

"Und moderne Pädagogik, die auf alle Kinder einzeln eingeht"

Hier klafft mal wieder der gigantische Unterschied zwischen Theorie und Praxis.
Theoretisch ist die Idee, dass der Schüler wegen eines schwachen Jahres nicht gleich die Schule wechseln muß, gut.
Theoretisch ist der Gedanke, dass Schüler nicht in allen Fächern gleich gut oder schlecht sind, auch einleuchtend. Da kann er dann Mathe auf Gymasialniveau machen und Deutsch eben nur auf Realschulniveau.

Praktisch gesehen klappt das nicht. Es läuft auf "entscheide du" hiansu und dafür halte ich Erstklässler für nicht fähig.

Früher war das eibfach: die ganze Klasse lernte Buchstaben D. Wer das D schon kannte, malte halt mit. Wer das D nach 3 Tagen immer noch nicht kannte, bekam Förderunterricht.
Förderunterricht hatte ich auch (bis mein Vater das untersagte weil zu peinlich, den haben doch nur Türkenkinder und die Kinder von den K.s)- da wurden Bücher gelesen, irgend was abgefahrenes in Mathe schon mal angetestet (Potenzrechnung in der 3. Klasse- ein Highlight!) usw.

Das Problem mit dem Hauptschulabschluß ist, dass man ihn für fast nichtsgebrauchen kann weil die Hauptschulen so nachgelassen haben.
Irgendwo hier bemerkte Kollege Pathologe, dass es Schulabgänger gäbe, die mit Kopfrechnen überfordert seien. Glaube ich sofort. Das wird auch nicht mehr genug stumpf gepaukt in der Schule.

Und so haben wir Elternhäuser, in denen das kompensiert wird, und welche, in denen das nicht klappt. Würde ich heute noch Abi machen?

das mariechen am 09.Jan 15  |  Permalink
"Und moderne Pädagogik, die auf alle Kinder einzeln eingeht"
Yay. Hätt' ich auch gern. 45 min Mathe in einer 8. Klasse mit 31 Schülern. Mindestens 10 Minuten gehen erst mal dafür drauf, dass angemessene Arbeitsbedingungen geschaffen werden. "Franz, pack dein Essen weg." "Anna, wo sind deine Mathe-Sachen?" "Beate, hör' auf zu quasseln!" "Gudrun, schmink' dich bitte in der Pause - jetzt ist Mathe!" "Dennis, Kevin, keine Prügelei bitte." Weitere 10 Minuten gehen dafür drauf, dass mehr als die halbe Klasse keine Hausuafgaben gemacht hat. Dann folgt ein üblicher Schüler (S.) - Lehrer (L.) Dialog:
S.: "Können Sie die Hausaufgabe noch mal erklären?"
L.: "Okay, schreib mal die erste Binomische Formel an die Tafel"
S. (leicht aggressiv, erhöhte Lautstärke): "Aber ich hab doch gesagt, Sie sollen das erklären!"
L. (betont freundlich): "Wenn ich erklären will, wie man die binomische Formel anwendet, muss sie erst mal an der Tafel stehen."
S. (noch lauter): "Aber ich hab die nicht gelernt."
L. (gaaanz ruhig): "Ist seit zwei Wochen Hausaufgabe"
S.: "Echt jetzt?"
L.: "Ellen, pack die Trinkflasche weg und diktier' dem Stefan mal die erste Binomische Formel."
S.: Ich will aber nicht an die Tafel kommen!"

Und das sind unsere braven "Landeier". Die Kollegin in der Kreisstadt hat 33 Schüler in einer 8. Klasse - ein Viertel der Klasse kann nicht mal richtig Deutsch; das Aggressionspotential liegt deutlich höher. Um "auf alle Kinder einzeln" einzugehen hat man pro Kind nicht mal eine Minute.

cassandra_mmviii am 09.Jan 15  |  Permalink
Ich lente in Didaktik, dass zwischen 1/3 und 2/3 der Stunde damit zugebracht werden, Lernbedingungen zu schaffen:
alle sitzen
alle sitzen auf ihrem Platz
alle sitzen auf einem Stuhl
alle haben ihre Lernmaterialien auf dem Tisch
alle gucken Richtung Tafel oder anderem Fokuspunkt
niemand feilt sich die Nägel
Lautstärke drosseln
wiederholen, was man grad gesagt hat
... und das war bevor der Bimmelfon zur Grundausstattung ab Klasse 5 gehörte. Wir addieren also Smartphone-Kappes.

Auf jedes Kind einzeln eingehen geht nur in Einzelunterricht. Eingehen heißt nämlich auch, dass schüler nicht die gefühlt 94. Wiederholung mit anhört, sondern fortschreiten darf.


Ich bin total für die Inklusion von behinderten Schülern. Nur sollte man dabei nicht vergessen, dass es sich dabei nicht nur um niedlcihe Mädchen im Rollstuhl handelt, sondern auch die Kinder, die früher als "verhaltensauffällig" bezeichnet worden sind, dadrunter fallen. In Großen Tigers alter Klasse flog mal ein Tisch. Flog. Das kann die Unterrichtsstunde gut ausfüllen. Mit Pech sogar den Resttag: selbst wenn das Kind aus dem Unterricht geholt worden ist- der Rest der Klasse hat da eine Weile dran zu knabbern.

das mariechen am 09.Jan 15  |  Permalink
Hier in Bayern
brauchen wir auf "Smartphone-Kappes" nicht einzugehen.
Der Art. 56 Abs. 5 BayEUG lautet:
"Im Schulgebäude und auf dem Schulgelände sind Mobilfunktelefone und sonstige digitale Speichermedien, die nicht zu Unterrichtszwecken verwendet werden, auszuschalten. Die unterrichtende oder die außerhalb des Unterrichts Aufsicht führende Lehrkraft kann Ausnahmen gestatten. Bei Zuwiderhandlung kann ein Mobilfunktelefon oder ein sonstiges digitales Speichermedium vorübergehend einbehalten werden."

Die Schüler wissen ganz genau: Wenn das Mobiltelefon unerlaubt benutzt wird, müssen die Eltern es anschließend im Sekretariat abholen - oder der Schüler muss eine schriftliche Vollmacht eines Erziehungsberechtigten vorlegen. Dann wird im das Gerät nach Unterrichtsende(!) ausgehändigt. Soll heißen: Je nach Andrang im Sekretariat verpasst er seinen Schulbus. Und bis der folgende Linienbus fährt, kann es schon mal bis zu zwei Stunden dauern.

cassandra_mmviii am 09.Jan 15  |  Permalink
Ein Gesetz ist immer nur so viel wert wie die Bereitschaft, es durchzusetzen.

Aber grundsätzlich nicht schlecht, erspart Diskussionen, ob Erstklässler nicht sicherheitshalber ein Handy mitnehmen sollten, wie wir sie auf dem Elternabend hatten. An der Tigerschule wird das nämlich nur per Schulordnung untersagt und das wollte eine Mutter nicht einsehen: mit Handy sei sicherer, und die Polizei sagt das auch!

das mariechen am 09.Jan 15  |  Permalink
mitnehmen - ja; einschalten - erst nach Unterrichtsende.

Allerdings hatte ich letzten Montag einen weinenden Fünftklässler vor mir, der den Wecker-Klingelton seines ausgeschalteten(!) mobile phones nicht dekativieren konnte. Den habe ich dann erstmal mit einem technisch etwas versierteren Kumpel vor die Klassenzimmer-Türe geschickt, damit die Klasse sich weiter dem "Umrechnen von Längeneinheiten" widmen konnte.

Eigentlich wollte er sein Gerät in der Jackentasche (Garderobehaken auf dem Gang) verstauen, damit es nicht weiter stört, aber da hätte es vermutlich Junge gekriegt - oder Beine zum weglaufen. So kam es (ruhiggestellt) wieder in die Schultasche.

cassandra_mmviii am 09.Jan 15  |  Permalink
das sind Not- und Ausnahmefälle.

Die Grundschule traut es den Kindern nicht zu, zuverlässig das Handy auszumachen. Das ist ab Klasse 5 was anderes.