Wenn die Freiheit von zum Zwang zu wird
Ich fange mal so an: dafür zu sorgen, daß kein Mädchen gezwungen wird, mit Kopftuch in die Schule zu gehen, ist gut, unterstützenswert und richtig.
Die Kehrseite ist, wenn man jedes Kopftuch als Zwang begreift und das arme Kindelein mit aller Macht davon befreien will. Und bist du nicht befreiungswillig, so brauch' ich Gewalt.

Nun wäre es interessant zu wissen, wie viele Mädchen man vor Zwangskopftuchtragen rettet und wie viele Mädchen man mit dem Zwang zu nackten Haar unterdrückt.

Kollege Loco deutete ja letztens schon was dazu an und kann bestimmt viel mehr und vor allem viel qualifizierteres dazu sagen als ich mit Kenntnissen, die nicht weiter gehen als ein Spiegel-Artikel.

Kollege Loco sagte, daß die Kantinen Schweinefleisch anbieten müssen. Solange es eine Alternative gibt, ist daran kaum etwas auszusetzen (auch wenn ich mich freuen würde, Mäuslein zu sein, wenn die französische Schulverwaltung das mit den Veggie-Day-Grünen bespricht).

Ich sehe hier allerdings ein Problem: wenn das Kopftuch oder das Kreuz meines Nebenmannes oder meiner Nebenfrau mir so zum Schmerz wird, daß ich es in der Schule nicht ertrage, dann gibt es ein Toleranzproblem.
Wenn der Tofubratling, den mein Klassenkamerad freitags ißt, mir zum Problem wird, dann ist das Problem wahrscheinlich tiefer als die Fritteuse, in der das ökounfreundliche Teil frittiert wurde.
Die Kippa auf dem Haupt meines Vordermannes wird mir den Blick zur Tafel nicht versperren.

Mit anderen Worten: ich sollte mich, wenn es soweit ist, um meinen eigenen Bauchnabel kümmern statt an dem andrer Leute rumzumaulen.
Das ist Fundamentalismus der Krampfsäkularisten.


Loco? was ist denn da los?




sid am 23.Okt 13  |  Permalink
In manchen Kindergärten hier mußte schon der Nikolo ausfallen.

Der fragt aber nicht, welcher Religion man angehört, sondern nur ob man brav war - zumindest seh ich das so.
Und da fängt und hört es sich für mich auch schon wieder auf, gegen alles und jedes zu sein, nur weil...
Dann dürften auch nur noch die Leute Weihnachten feiern, die NICHT ausgetreten sind. (Da hab ich grad noch leicht reden ; ) )

cassandra_mmviii am 23.Okt 13  |  Permalink
Der Nikolaus kommt nicht in unseren Kindergarten- ich fürchte, für einen Besuch des Nikolaus ist der KiGa nicht brav genug gewesen :-)

Ein paar Revoluzzer-Eltern haben sich durchgesetzt und es gibt dieses Jahr kein "Lichterfest", sondern Laternelaufen. Im nächsten Schritt wird das "Winterfest" durch eine Weihnachtsfeier ersetzt.
Damit haben die muslimischen Eltern, mit denen ich drüber geredet habe, kein Problem, eine Mutter findet es sogar gut.
Also die, auf die immer Rücksicht genommen wird, haben dieses verschärfte Schutzbedürfnis gar nicht.

loco-just-loco am 26.Okt 13  |  Permalink
Das Problem der Franzosen ist, daß ihrer Sprache nicht nur das Wort für Heimat fehlt, sondern auch das Wort für Pluralismus. "Jeder möge nach seiner Façon selig werden" - das konnte Voltaire wohl nur in Potsdam verkünden, in Frankreich ist das undenkbar.

Und das führt dazu, daß die Franzosen prinzipiell geistige Taliban sind. Allerdings nicht mit dem Koran unterm Schildarm, sondern mit der sogenannten Laïcité. Bloß: da mißverstehen sie das Gesetz von 1905, das sie doch so hochheben und das quasi Verfassungsrang hat - das sagt nämlich, die Religionsausübung ist frei, und der Staat hat da nix reinzureden, solange die öffentliche Ordnung nicht gestört wird. Nun, der Franzose fühlt sich - und das hält er für die öffentliche Ordnung - gestört, sobald sich jemand anders verhält als er selbst... und daraus ist das, prinzipiell verfassungswidrige, Gesetz von 2003 entstanden, das in dem Artikel zitiert wird.

Allerdings fragen sich die Franzosen selbst, warum jetzt diese "Charte" überall ausgehängt werden soll. Es gebe doch gar keine Schwierigkeiten in den Schulen mit der Laïcité. Viel eher mit sozialen Brennpunkten... ob die Politik damit wieder mal ablenken wolle von ihrer Unfähigkeit, die wirklichen Probleme anzugehen. So wie man statt Wirtschaftspolitik zu machen, mal eben ohne jede gesellschaftliche Diskussion die "mariage pour tous" durchgeknüppelt hat. Und Hollande als nächsten gleichartigen Coup die Euthanasie einführen will. Vorsorglich schon mal den nationalen Ethikrat umgekrempelt hat - die gesellschaftlichen Gruppen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, weil Laïcité eigentlich auch bedeutet, daß die religiösen Gruppen selbst bestimmen können und müssen, wer sie in diesem Gremium vertritt...

In einem kleinen Kommentar ist das Problem kaum zu umreißen, weil es in die Tiefen der republikanisch-französischen Seele geht. Bücher müßte ich schreiben, wie Victor Hugo...