Neues vom R.
Er hat über's Wochenende mal nachgedacht.
Erst mal ist es ja schlimm, dass man heutzutage keinen Job mehr bekommt, auch mit Studium.
Also will er auswandern. Eine gute Ausbildung hat er ja, da müsste er in Schweden oder Norwegen oder Finnland doch lässig einen Job finden. ZB in der internationalen Holzwirtschaft. Das haben die da doch.
Oder er geht in ein Master-Programm da, die nehmen ja keine Studiengebühren.
Und bis das klappt, hat er sich erst mal überlegt, wird er einen Job brauchen. Was? Na ja, da ist er sich nicht so sicher. Aber die Frau vom Amt habe ihm was von Qualifikationsmassnahmen erzählt, da wolle er auf jeden Fall erst mal rein, sich qualifizieren. Zusatzqualifikationen sind immer gut. Und die wollen ihm auch eine Stelle vermitteln.
Ich fragte ihn, ob er in den letzten Jahren mal Nachrichten geguckt hat. Oder aus Versehen dem zugehört hat, was der S. erzählte.
S. hat nämlich auch ein abgeschlossenes Fachschulstudium, sogar mit 1,irgendwas. Aber er musste ein halbes Jahr auf sein Abschlusszeugnis warten. Also bekam er sowohl Hartz4 als auch eine fürsorgliche Sachbearbeiterin. Die fürsorgliche Sachbearbeiterin wusste nix mit seiner Ausbildung anzufangen, also assoziierte sie drauflos was das wohl sein könne. Und weil sie sich echt nicht sicher war, sollte er erst mal einen Gabelstaplerführerschein machen. Kann man immer brauchen wenn man sich ungelernt bewirbt.
S. lehnte ab. 1. Ablehnung kann man ja noch ohne Kürzungen machen.
Die 2. kam als er Touristen beim Hüttenbau anleiten und bespassen sollte. Animateur war seine Horrorvorstellung.
Auch ein LKW-Führerschein stand im Raum. Aber noch bevor der konkret wurde, fand er eine Stelle via Eigenbewerbung.
Aber der R. meinte, so schlimm könne das alles nicht werden. Die würden doch wissen, dass er studiert hat.
Ich wies ihn noch auf die Einschränkungen bzgl. der Wohnverhältnisse hin. Davon hat die Frau nichts gesagt. Sie habe aber gesagt, seine Chancen, dass sie ihm was vermitteln könnten oder ihn weiterqualifizieren, seien wirklich gut. Und das man natürlich Wünsche und bereits vorhandene Fähigkeiten berücksichtigen würde.
Mal schaun. Vilelleicht haben sie ja Internationaler Wirtschaftmanager ins Programm aufgenommen.
Könnte sein, dass die ihn erst einmal in ein Bewerbungstraining stecken. Und dann vielleicht noch in eins, wo es darum geht, wie man sich selbstständig macht.
Ja, könnte sein. Hoffentlich kommt da dann ein Kurs in "realistische Grundlagen eienr Existenzgründung" vor, denn bisher sehe ich da durch die persönliche Bekanntschaft eher dunkelgrau.
Bei "bereits vorhandene Fähigkeiten" assoziierte ich eher "Sie haben einen Führerschein? Kurierfahrer!"
Da wird meienr Erfahrung nach eher versucht, Leute in den Niederigqualifikationsektor abzuschieben als ein Trainee-Programm für Studierte aufgelegt.
Hängt vermutlich vom jeweiligen Amt und dem/der jeweiligen Sachbearbeiter/in ab.
Essen auf Rädern, Eismann und Pizzabringdienst fielen mir da ein. Die Qualifizierungsmaßnahmen werden ständig heruntergefahren. 2000 wurden da noch ein Jahr lang Webdesigner ausgebildet, inzwischen ist es der Sprach- oder Buchhaltungskurs von 3 Monaten Dauer.
Na ja, inwieweit so ein Bewerbungstraining oder ein Existenzgründerkurs als Qualifizierung gelten, sei mal dahin gestellt. Aber diese Kurse laufen meines Wissens noch.
Ich werde gelegentlich den Eindruck nicht los, als würde in dem Bereich relativ viel sinnfreies Zeugs gemacht.
Das individuell Bewerbungstrainings oder Existenzgründerkurse eine sehr gute Strategie sind will ich nicht bestreiten.
Aber warum jemand, der nur drauf wartet, sich fachgebunden bewerben zu können (eben weil das Zeugnis noch aussteht) unbedingt einen Gabelstaplerführerschein machen soll und sich ungelernt bewerben, das ist mir nicht ersichtlich.
Eine Ergotherapeutin sollte sich zur Verkäuferin umschulen lassen.
Und um sich selbständig zu machen braucht man erst mal eine Idee, die man auch umsetzen kann. Nicht jeder kann alles.
Was ich für einfach nur widersinnig halte ist das Hartz4-Empfängerinnen gezielt zu Tagesmüttern ausgebildet werden, tw auch ohne Lust auf diesen Beruf. Es ist eine relativ kostengünstige Ausbildung und dahinter steht die Haltung, dass so ein bisschen auf ein paar Kids aufpassen ja nicht so schwer ist und man keine Ausstattung braucht. Das kann zwar stimmen, wenn die Frau bereits eigene Kinder hat (hier fliegt mehr Spielzeug rum als ich jemals Schuhe haben werde), muss aber nicht. Eine Freundin von mir suchte eine Tagesmutter und geriet in eine Szene, von der sie sich ganz sicher war, dass sie von RTL2 gefilmt worden ist.
Plattenbau, 2-Zimmer-Wohnung, sie hatte die Fortbildung vom Amt vorgesetzt bekommen. Ihr Kerl sass während man sich unterhielt daneben, rauchte ine Zigarette nach der anderen und guckte Fernsehen. In der Ecke stand ein Pappkarton mit ein paar Autos, das war für die Kinder zum Spielen.
Sie bekam dermassen fix Fluchtgedanken aus der Wohnung, dass sie danach nie wieder überlegten, ihr Kind wegzugeben tagsüber. Dann blieb Fr. Dr. eben zu Hause.
Die nächsten Tage hatte sie ein Thema: einerseits sind alle Medien voll mit der Notwendigkeit, Kinder aus genau solchen Verhältnissen rauszuholen und zu bilden, andererseits wird es staatlich gefördert, sein Kind genau da hinzugeben.
Es gibt auch wunderbare Tagesmütter aus diesen Fortbildungen. Wie immer kommt es auf dem Menschen an.
Ich weiß von einer Betroffenen, die, als sie vor ein paar Jahren sie arbeitslos war, in Bayern in so einen Existenzgründerkurs gezwungen wurde, obwohl sie nie die Absicht hatte, sich selbstständig zu machen - genausowenig wie die meisten anderen Arbeitslosen, die in diesem Kurs herumsaßen. Da war auch einer dabei, der schon einmal als Selbstständiger pleite gegangen war, der sagte dem Trainer auch ganz offen, dass er aus diesem Grund sich ganz gewiss nicht noch einmal selbstständig machen wolle. Aber er dackelte wie die anderen halt brav in den Kurs, um keinen Ärger mit der Agentur für Absurdes zu bekommen.