Eine Frage der Erziehungshoheit
Ich argumentiere ungern mit dem Grundgesetz, denn alles was man braucht, um dieses zu ändern sind z. Zt. 414 Leute, die die Hand heben. Wie wenig ein im Grundgesetz festgeschriebenes Recht unverhandelbar ist zeigte sich 1993 (dazu später mehr) als das Asylrecht dramatisch eingeschränkt wurde.

Aber trotzdem:
die Freiheit der Religionsausübung ist grundgesetzlich garantiert. Auch für Moslems und Juden, und das ist auch gut so.

Bei der Beschneidungsdebatte ist meiner Ansicht nach eine gehörige Portion Islamfeindschaft und der gute alte Antisemitismus dabei. Plus staatliche Omnipotenzgedanken.

Während man bei der moslemischen Beschneidung noch sagen kann, dass der Zeitraum flexibel ist, ist für Juden die Beschneidung eines Jungen am 8. Tag nach der Geburt keine Kann-Vorschrift, sondern ein Muss. Niemand wird gezwungen, sich an die Vorschriften irgendeiner Religion zu halten oder sie überhaupt für eine Vorschrift zu halten- niemand ruft die Polizei, wenn der Moslem ein Bier trinkt. Und auch das ist gut so.
Aber es ist halt auch die Freiheit, zum Bier "nein danke zu sagen" und auch seine Kinder dazu anzuhalten, "nein danke" zu sagen.

Vordergründig geht es um die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit, sich selbst zu entscheiden. Klingt supertoll.
Aber: wir wachsen alle mit den Regeln und Wertvorstellungen unserer Umgebung auf. Diese Umgebung wird weitgehend von unseren Eltern ausgesucht.
Wer in der Anti-AKW-Bewegung ist, wird seinem Kind vermitteln, warum er Atomkraft für eine Schwachsinnsidee hält und auch die dahinterstehendenWerte ansprechen (Schutz von leben&Umwelt etc). Und das ist auch gut so- denn eine Erziehung ohne Werte bietet keien Mögliochkeit, sich an diesem Rahmen zu reiben. Zum Erwachsenwerden gehört die Auseinandersetzung mit den Werten seiner Eltern. Dabei kann es gehörig krachen. Und auch das ist gut so, denn wer nicht hinterfragt, lebt einfach nur nach und dem fällt wahrscheinlich nicht auf, wenn was aus dem Ruder läuft.

Wir wollten den Grossen Tiger eigentlich nicht taufen lassen, er soll sich selbst entscheiden dürfen und mit gemischtkonfessionellen Eltern würde er ja sowieso vor die Wahl gestellt werden.
Ausserdem ich fand es extrem schade, mich als Erwachsene nicht taufen lassen zu können weil meine Eltern (die nur in die Kirche gehen wenn sie "müssen", mein Vater sagte auch regelmässsig, dass der Pastor ihn mit dem "Quatsch" in Ruhe lassen soll) mich als Baby haben taufen lassen.

Pater H. sagte uns ziemlich offen, dass er das für feige hält. Das Kind soll also die Entscheidung treffen, vor der wir uns drücken? Von ihm aus sollten wir ihn ruhig lutheranisch taufen lassen, kein Problem, aber getauft werden muss. Entscheiden muss er sich wenn er alt genug ist sowieso, und "alt genug" wäre individuell, manche tun das schon als Kind.
Also wurde er getauft als Lutheraner. Und entschieden hat er sich- er will Katholik werden. Also wird er das im Herbst.

Um was geht es im Meta-Diskurs?
Es geht mal wieder um die Frage, wer die Erziehungshoheit hat und ob der Staat im Interesse der Religionsfreiheit eine religionsfreie Erziehung gewährleisten soll. Es geht um die Frage, ob die Werte, die in einer Erziehung vermittelt werden sollen, staatlich vorgegeben werden sollen oder nicht.

Als Gesellschaft neigen wir dazu, immer mehr Erziehungsaufgaben an den Staat und seine Institutionen zu delegieren. Das halte ich für falsch.




mark793 am 19.Jul 12  |  Permalink
Das Problem
ist ja wohl nicht die Religionsausübung als solche, sondern dass sie in ihrer konkreten Ausübung mit anderen ebenso hohen Rechtsgütern kollidiert, so dass hier eine Abwägung zu treffen ist.

Mag sein, dass nicht jeder, der sich contra Kinder-Beschneidung zu Wort meldet, völlig frei ist von xenophoben/antisemitischen Wallungen, aber das macht die Position als solche (dass die körperliche Unversehrtheit im Zweifelsfall höher zu bewerten ist), nicht unbedingt falsch.

Dass es hierbei vor allem um Erziehung ginge, kann ich nicht so recht nachvollziehen. Ein Staat, der elterliche Ohrfeigen als Straftat ahndet, aber zulässt, dass aus religiösen Gründen an kleinen Jungs rumgeschnippelt wird, macht sich in meinen Augen schlicht unglaubwürdig.

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
Das Problem ist, dass es sich um eine konstituierende Vorschrift des Judentums handelt, bei der Eltern der Überzeugung sind, dass sie dem Wohl des Kindes diene.

Und das es sich nicht um ein per se traumatisierendes Erlebnis handelt- in den USA ist die Beschneidung auch abseits aller religiösen Fragen relativ üblich, und nicht mal im Land wo jeder wegen allem klagt, sind da Fantastilliarden als Schadenersatz gezahlt worden.

Ob es sinnvoll für den Staat ist, ein so komplettes Verbot der körperlichen Bestrafung zu erlassen, kann man debattieren. Ich denke nicht.
Ich will Kindsmisshandlung nicht schönreden, aber als mein Bruder den väterlichen Wagen im Garten in einen Totalschaden verwandelt hat und dabei sowohl sich als auch mich und ein paar Nachbarskinder gefährdet hat... da fällt mir auch eher "Hintern voll" als "lass mal drüber reden" ein.
Solange das als singuläres Ereignis nach absoluten Blödsinn passiert und nicht zum Regelfall wird ist das mAn zu vertreten und keine Kindsmisshandlung.

mark793 am 19.Jul 12  |  Permalink
Bei der Frauenbeschneidung
sind sogar auch die älteren Frauen der Meinung, dass es dem Wohl der Tochter diene. Na und? Und dass die Vorhautamputation nicht unbedingt die segensreiche Lappalie (schönes Wort in diesem Zusammenhang) ist, wie deren Befürworter gerne behaupten, wird spätestens klar, wn man sich nur ein paar Minuten lang in das Thema einliest. Der sehr ausgewogene und ausführliche deutsche wikipedia-Artikel ist da schon mal ein guter Start.

Konstituierend ist die Vorschrift übrigens nicht in dem Sinne, dass man kein Jude wäre, wenn die Vorhaut im Alter von 13 noch dran ist. Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde.

Im Übrigen hat die jüdische Religion auch kein Problem mit Abtreibung, und trotzdem sind jüdische werdende Mütter hierzulande an die Fristenregelung gebunden.

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
"Im Übrigen hat die jüdische Religion auch kein Problem mit Abtreibung, und trotzdem sind jüdische werdende Mütter hierzulande an die Fristenregelung gebunden."

wehalb der Jüdische Krankenhaus in Berlin die b'rit mila eingestellt hat. Man hält sich an geltendes Recht.
Und es stellt keinen Verstoss gegen die religiösen Vorschriften dar, nicht abzutreiben oder dies nicht in der 25. Woche zu tun.


Die Beschneidung ist das Zeichen des Bundes (hebr- b'rit):

"Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn's acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. Desgleichen auch alles, was an Gesinde im Hause geboren oder was gekauft ist von irgendwelchen Fremden, die nicht aus eurem Geschlecht sind. Beschnitten soll werden alles Gesinde, was dir im Hause geboren oder was gekauft ist. Und so soll mein Bund an eurem Fleisch zu einem ewigen Bund werden.
Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat."

(1. Mose 17,10ff)

Wie gesagt- niemand muss sich an religiöse Vorschriften halten und gerüchteweise sollen sogar Katholikinnen die Pille nehmen ohne dass die Religionspolizei auftaucht. Den Staat geht das nichts an- was auch sehr gut ist!


Ich sehe eine recht grossen Unterschied zwischen dem, was als "weibliche Beschneidung" bezeichnet wird (ein Begriff, hinter dem sich eine grosse Bandbreite verbirgt- 4 Semester Ethno) und der männlichen Vorhaut, die wie gesagt auch bei einem Teil US-Bürger fehlt, ohne dass es da zu Menschenrechtsverletzungen geführt hat.

Die Frage, was mit einem Beschnittenen passiert, der sich dann beschneiden lassen will... die trieb uns in "Einführung in die Ethnologie" um. Der konkrete Fall war ein Junge, der in in britischen Kolonialgebiet lebte lebte und dort animistisch beschnitten werden sollte, was Missionare aber zu verhindern wussten, indem sie die fragliche Vorhaut im Missionskrankenhaus wegoperieren liessen, was dazu führte, dass der Junge niemals eine Reihe von Riten durchführen konnte.

mark793 am 19.Jul 12  |  Permalink
Andere Länder,
andere Sitten. In den USA verklappt man auch Flouride ins Trinkwasser, weil man mal glaubte, das wäre gut für die Zähne. Wie man heute weiß, ist das nicht der Fall. Nebenbei bemerkt formiert sich auch in den USA zunehmend Widerstand gegen die (Un-)Sitte der Beschneidung.

Mein Rechtsempfinden geht mit dem jüngsten Urteil zur Beschneidungsfrage jedenfalls d'accord (wenn auch nicht vollumfänglich mit der Urteilsbegründung).

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
Nachtrag:

das Problem taucht auf, sobald religiöse Praxis mehr wird als einmal die Woche in der Kirchenbank sitzen und ein bisschen Singen und sich in irgendeiner Art abhebt und damit auffällt.

Wenn eine moslemische Lehrerin vor der Schule ihr Kopftuch abnimmt und es beim Verlassen des Gebäudes wieder umlegt kommuniziert das "eigentlich finde ich es richtig, das Tuch zu tragen, aber meine Überzeugungen sind verhandelbar, ich passe mich an". So erzieht man keine Demokraten.

tama am 19.Jul 12  |  Permalink
Bei Ihrem Kopftuchbeispiel sehe ich ein kleines Problem: Nämlich das, dass neben der Religionsfreiheit auch die Trennung von Staat und Kirche festgelegt ist. Das heißt, dass in der Schule als staatliche Einrichtung religiöse Symbole nichts zu suchen haben, auf der Straße als Allgemeingut und selbstverständlich in den eigenen Vier Wänden schon.

(Ja, mir ist klar, dass man jetzt auch einwenden könnte, dass das Kopftuch nicht per se Symbol des Islams ist; allerdings wird es immer als solches verkauft, auch von einem Teil der Muslime selber; mir persönlich hat das einer auch mal so erklärt. - Und klar kann man mir jetzt sagen, dass dann auch Religionsunterricht, Kreuze und Co. nichts in der Schule verloren haben. Und da sage ich: Ja! Die haben da nichts zu suchen. Gemeinden und Co. bieten schon lange eigene "Erziehungseinrichtungen", die religiöse Praxis lehren. Gäbe es aber allgemein ein Fach "Kultur und Ethik" oder etwas Ähnliches, würde Religion als Teil der Kultur durchaus wieder in die Schule passen... Aber als Selbstzweck: Nein!)

Ich kann Ihren Standpunkt nachvollziehen, Cassandra, denn bei den Juden ist die Beschneidung am achten Tage ebenso Vorschrift wie bei den Christen die altersunabhängige Taufe und würde folglich tatsächlich zur garantierten, freien Religionsausübung dazugehören. Aber ich kann auch Herrn Mark rechtgeben, denn technisch gesehen handelt es sich bei der Beschneidung um eine Körperverletzung und die würde sie auch dann bleiben, wenn sie unter medizinischen Indikationen vorgenommen würde, so lange Betroffener bzw. Stellvertreter dem Eingriff nicht zustimmen.

Für mich persönlich ist es also gerade sehr schwierig, mich hierzu eindeutig äußern zu wollen; wahrscheinlich bräuchte ich dazu sehr viel Zeit und sehr viel Material.

Ansonsten erinnert mich das Ganze irgendwie hieran; hatte mir freundlicherweise Frau Sturmflut verlinkt, als wir gerade beim Thema waren.

mark793 am 19.Jul 12  |  Permalink
So erzieht man keine Demokraten.

Ach nein? Demokratie heißt auch, damit leben zu müssen, dass die eigene Position nicht immer von der Mehrheit geteilt wird und somit Kompromisse notwendig sind. Davon abgesehen ist Kopftuch nochmal anderer Schnack als Vorhautverstümmelung oder koscheres Schächten, weil da jeweils andere Rechtsgüter zur Abwägung stehen. Insofern finde ich nicht, dass uns das Thema eines Stücks Stoff, das man abnehmen und wieder aufsetzen kann, bei der Frage nach der Akzeptanz von religiös begründeter Körperverletzung weiterbringt.

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
"Ach nein? Demokratie heißt auch, damit leben zu müssen, dass die eigene Position nicht immer von der Mehrheit geteilt wird und somit Kompromisse notwendig sind"

solange dieser Kompromiss für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig ist und die Interessen aller Seiten ausreichend berücksichtigt, eben ein Kompromiss und die einfach nur Mehrheitsdiktatur ist.

In meinem Leben gibt es ein paar Dinge, die sind nicht verhandelbar, auch wenn alle anderen das anders sehen sollten (bisher noch nicht passiert). Und sollten diese Grundsätze in Konflikt mit der Mehrheitsmeinung geraten, so werde ich sie deswegen nicht kompromittieren.

Demokratie lebt vom Mitmachen und von Bürgern, die ihre Meinung einbringen. Mit "ich wart mal ab wa sdie Mehrheit meint und stimm dann auch dafür" funzt das nur zu einem gewissen Grad.
Das funkioniert nur solange Leute mit eimem festen Gerüst an demokratiekompatiblen Werten rumlaufen und auch bereit sind, diese nicht zur Verhandlung zu stellen.

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
"Das heißt, dass in der Schule als staatliche Einrichtung religiöse Symbole nichts zu suchen haben, auf der Straße als Allgemeingut und selbstverständlich in den eigenen Vier Wänden schon.

wenn man das so einfach trennen könnte wäre es ja kein Problem.

Ich bin ich- immer, egal ob ich zu Hause, auf der Strasse, in der Kirche oder in der Schule bin.
Ich lasse mich bei Wahlentscheidungen von meinem Gewissen leiten, und das ist gössetnteils katholisch. Ich kann dieses Gewissen nicht abschalten und will es auch gar nicht.

Mein Physiklehrer gehörte zu den Lehrern, die die gerichtliche Auseinndersetzung um den berühmten "Atomkraft- nein danke"-Anstecker geführt haben. Nukearphysik leitete er mit den Worten ein "Ihr wisst alle, wie ich dazu stehe" und dann erfolgte Unterricht. Wir haben nienals Horrorgeschichten über explodierende Atomkraftwerke gehört von ihm oder ähnliches. Er war durch sein Physikstudium zum Schluss gekommen, dass das Unfug sei, mit rationalen Gründen jenseits aller Betroffenheitsrhetorik.
Er sagte, als Lehrer werde er unglaubwürdig wenn er plötzlich so täte als ob er Atomkraft superprima fände. Es gab übrigens keine besseren Noten für Teilnahme an der Anti-AKW-Demo :-)

Das Kopftuch gehört bei der Muslima zu ihrer Vorstellung, wie Kleidung auszusehen habe.

Religionsunterricht an der Schule... Zitat Priester "das ist alles ziemlich schwierig hier".
An der ersten Schule erklärte uns die Rektorin, dass sie das "eher als so eine Art Klassenlehrerstunde" sehen. Unterrichtet wurde... ja, was haben die da unterrichtet.... ich weiss es nicht.

Die Bremische Evangelische Kirche hat mit der Senatorischen Behörde einen Lehrplan entwickelt, bei dem Gott irgendwie aussen vor bleibt, was der Grund ist, weshalb die katholischen Gemeinden das nochmal extra anbieten.
Der Versuch, den Tiger da nicht mehr hinzuschicken, wurde im Ansatz vereitelt durch "dann geht er eben für die Stunde in eine andere Klasse" weil die Kinder Anwesenheitspflicht haben.

Bei uns fiel in der 8. und 9. Klasse der Religionsunterricht aus- weil wir ja konfimiert werden würden. Das man im "Konfer" allerdings kaum das behandelt, was im Religionsunterricht eigentlich anstünde, sondern in der lutheranischen Lehre unterwiesen wurde, die ja nicht mal von allen Christen geteilt wird... egal.


Einer meiner Literatur-Dozenten erregte heftigen Protest als er eines Tages eine extrem zerfledderte Ausgabe der King-James-Bibel auf den Tisch warf und sagte "Meine Damen und Herren, ihre Wochenendlektüre". Wir würden englische Literatur ohne gründlichste Bibelkenntnis niemals verstehen.
"Ich glaub aber nicht an Gott!" brummelte aus aus den Sitzreihen.
"Das müssen Sie ja auch nicht, sie sollen nur wissen, um was es dabei geht"

Das wäre im Geschichts-Studium auch eine ausgezeichnete Idee gewesen. Mittelalter verstehen ohne Christentum? Nicht möglich.

Jetzt kann man sagen "super, aber wir wollen nicht alle Literatur studieren oder Geschichte". Stimmt. Aber wir müssen ja auch alle den elektrischen Widerstand berechnen können auch wenn wir nicht Physik studieren wollen. Oder den Zitronensäure-Zyklus auswendig könne, auch wenn das biologischste was wie je wieder tun werden nach Abschluss der Schule das Tranchieren eines Brathuhns ist.
Das nennt man Allgemeinbildung.


Jeder medizinisiche Eingriff ist juristisch geseheen eine Körperverletzung. Über Sinn und Unsinn einzelner Eingriffe kann man streiten. Da die Tigereltern nicht davon ausgehen, dass die FSME-Infektion sich an bunte Landkarten hält und wir zwei Freigänger-Katzen haben bestanden wir auf der Impfung.

Ich kenne (man lernt als Elter seltsame Leute kennen) eine radikale Impfgegnerin. Die hat -mAn- nicht alle Tassen im Schrank. Sie ist fest davon überzeugt, dass es Masern erst seit den Impfungen gegen Masern gibt. Und sie war der Ansicht, dass sie ihre Hautprobleme "der Impfe" zu verdanken hat, die ihre Eltern ihr "angetan" haben.
Deswegen sind ihre Kinder gegen gar nichts geimpft. Das ist -so sehe ich es- mindestens gefährlich, und zwar nicht nur für das Kind selber, sondern auch für andere weil sich ggf Seuchen so ausbreiten können. Es würde also einen Handlungsgrund für den Staat geben, da hier das Interesse der Allgemeinheit berührt ist. Macht aber keiner. Wenn wir die körperliche Unversehrtheit für so hoch einschätzen, dass sie andere Rechtsgützer in den Schatten stellt, warum dann nicht hier? An Masern sind mehr leute gestorben oder dauerhaft körperlich beeinträchtigt als an fehlender Vorhaut.

mark793 am 19.Jul 12  |  Permalink
Wenn wir die körperliche Unversehrtheit für so hoch einschätzen, dass sie andere Rechtsgützer in den Schatten stellt, warum dann nicht hier? An Masern sind mehr leute gestorben oder dauerhaft körperlich beeinträchtigt als an fehlender Vorhaut.

Woher dieser Drang, zur Verteidigung eines Unsinns unbedingt anderen Unsinn ins Feld führen zu müssen? Vor den Impf-Muffeln würde ich, wenn wir schon mal dabei sind, eher mal bei den Jehovas anfangen, denn deren grundsätzliche Ablehnung von Bluttransfusionen hat nachweislich mehr Menschenleben gefordert als Impfmüdigkeit. Im Übrigen ist es selbst unter Medizinern kein allgemeiner Konsens, welche Impfungen ein Kann sind und welche ein Muss. Auf welcher Basis sollte man da einen Impfzwang institutionalisieren?

Und wie gesagt, gegen medizinisch indizierte Beschneidung, etwa bei Phimose oder welchem Pimmelproblem whatever, hat sich das Urteil ja nicht gerichtet. Also lassen wir die Kirche doch mal im Dorf.

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
"Woher dieser Drang, zur Verteidigung eines Unsinns unbedingt anderen Unsinn ins Feld führen zu müssen"

Ich versuche einzuordnen, warum sich im vorleigenden fall ein Staatsanwalt einschaltete. Das ist Routine bei der Frage nach Kunstfehlern wenn ich das richtig verstanden habe.
Kunstfehlerfrage geklärt- also Frage erledigt.

es hat sich ja kein Erwachsener mit der Aussage "ich leide" an die Staatsanwaltschaft gewandt, sondern es passierte etwas, was nach übereifriger deutscher Justiz mit klaren Feindbildern wirkt.


Bluttransfusion:
Wenn ein erwachsener Mensch eine medizinische Behandlung nicht wünscht, dann soll er ihr nicht zwangsweise unterzogen werden. Wir sind ja nicht in der wohlmeinenden Gesundheitsdiktatur.

Bei Kindern ist das was anderes. Aber da wird mittlerweile relativ problemlos Blut tranfusioniert.

Dazu stellt sich mir die Frage, wie viele Zeugen haben wir eigentlich in Deutschland und wie viele Kinder haben die und wie oft brauchen die pro Jahr eine Bluttransfusion? das ist ja nicht unbedingt der alleralltäglichste Fall, die Tiger brauchten noch nie eine, von daher frage ich mich, ob diese Einzelfälle wirklich das Mass sind, an dem wir alles messen sollten.

Ob Masern oder fehlende Bluttranfusionen für mehr Todesfälle verantwortlich sind... schwer zu sagen, dazu müsste man den zeitlichen Rahmen eingrenzen. Ohne würde ich auf die Masern setzen- die hatten schon sehr viel mehr Zeit.


Was ist mit durchstochenen Ohrläppchen?
Oder mit den (meiner Ansicht nach überflüssigen) Röntgenuntersuchungen, denen ich alle drei Monate unterzogen wurde? Als ich 18 war hörte ich auf mit dem Unfug (primär weil ich keinen Bock mehr auf die damit einhergehende Behandlung von angeblich superernsten Rückeproblemen hatte und den Ärger weil das alles nicht funzte)

tama am 19.Jul 12  |  Permalink
wenn man das so einfach trennen könnte wäre es ja kein Problem.
Funktioniert wunderbar: nennt sich dann Ratio.
An vielen Dingen beißt sich die Menschheit schon seit Jahren die Zähne aus, namentlich auch so genannte demokratische Staaten. Wenn alles, was wünschenswert und ethisch richtig wäre (Ich definiere Ethik unter rein philosophischen Gesichtspunkten, da gehört die Ratio für mich ein gutes Stück dazu.), so einfach umzusetzen, müssten wir uns gerade ja auch nicht über dieses Thema unterhalten.

Ich bin ich- immer, egal ob ich zu Hause, auf der Strasse, in der Kirche oder in der Schule bin.
Ich lasse mich bei Wahlentscheidungen von meinem Gewissen leiten, und das ist gössetnteils katholisch. Ich kann dieses Gewissen nicht abschalten und will es auch gar nicht.

Wenn ich das wieder auf das Kopftuch beziehe, frage ich mich nur: Warum kriegt die Türkei das dann besser hin als wir? - Schule, Universität, Behörde - das Kopftuch landet so schnell in der Handtasche, da kann man gar nicht gucken. Und das in einem muslimischen Land.

Das Kopftuch gehört bei der Muslima zu ihrer Vorstellung, wie Kleidung auszusehen habe.
Ich kann mich dran erinnern, dass Mitschülerinnen nach Hause geschickt wurden, weil Absätze zu hoch, Röcke zu kurz und Ausschnitte zu tief waren - das war ihre Vorstellung davon, wie Kleidung auszusehen hat. Ist also nur erlaubt, was religiös motiviert ist? Oder geht es jetzt eher um Kultur?

Das wäre im Geschichts-Studium auch eine ausgezeichnete Idee gewesen. Mittelalter verstehen ohne Christentum? Nicht möglich.
Ich glaube eher, dass es bei diesem wie bei den anderen Beispielen weniger um Religion als vielmehr um Kultur geht - und Religion ist ein Teil von Kultur. Das Loslösen von Kultur halte ich bei der Religion für problematisch.

An Masern sind mehr leute gestorben oder dauerhaft körperlich beeinträchtigt als an fehlender Vorhaut.
Hm, dem Impfvergleich kann ich mich nicht so recht anschließen...
Ich sehe die Intention, dass der Schutz der Allgemeinheit im Vordergrund stehen soll. Ich verstehe Sie so, dass das Ihr Hauptknackpunkt ist.

Sie können diesbezüglich ja bei Ihrem Bundestagsabgeordneten nachfragen.

Ich habe da leichte Probleme mit: Vor mir schwirren dann plötzlich Raucher, Feinstaub, sauerer Regen, Kinderschänder, Frauen- und Männerschänder herum, Klimawandel,...

Man kann vieles mit dem Schutz der Allgemeinheit begründen.

Ich will das Argument jetzt nicht schlecht reden. Aber die Begründung mit der fehlenden Vorhaut ist ein bisschen...

1. Es ist und bleibt ein operativer Eingriff.
2. Auch Standardeingriffe können böse schief gehen. (David Reimer??)
3. Wenn man die religiös motivierte männliche Beschneidung aus Gründen der freien Religionsausübung erlaubt, muss man auch die weibliche Beschneidung aus Gründen der freien Religionsausübung erlauben (Ja, viele behaupten, dies geschehe aus Gründen der Unterdrückung - genauso viele sagen das vom Kopftuch oder von der Burka. Ja, was stimmt denn dann nun??)
4. Um das Impfbeispiel aufzugreifen: Wenn es zum Schutze der Allgemeinheit notwendig ist, die Zwangsimpfung einzuführen, dann muss man konsequent sein, und auch die männliche Zwangsbeschneidung anordnen - es ist ja allgemein bekannt, dass sich unter der Vorhaut so allerlei Keime, Bakterien und Sporen tummeln, von denen die Herren auch wegen ihre längeren Harnröhre nichts merken - die Damen dafür umso mehr. Teilweise verfehlt bei besonders hartnäckigen Infektionen auch die gründliche Körperhygiene ihre Wirkung.

Nochmal: Ich verstehe beide Sichtweisen. Aber mir selbst fällt es schwer, mich festzulegen, weil ich beide nachvollziehen kann und es sehr kompliziert finde, weil eben so viele Aspekte mit hineinspielen.

mark793 am 19.Jul 12  |  Permalink
@Was ist mit...
Ich will nicht sagen, dass diese Fragen unberechtigt wären, aber letztlich landen wir auf dem Weg bei den verhungernden Kindern in Afrika, die sterben müssen, weil Kinder hierzulande lieblos geschmierte Pausenbrote wegwerfen. Warum werden die nicht wegen unterlassener Hilfeleistung verklagt?

Anders gesagt, für mein Empfinden haben wir das ursprüngliche Thema jetzt mit allerlei Eröffnungen von Nebenschauplätzen hinlänglich zu Tode diskutiert...

tama am 19.Jul 12  |  Permalink
Da gebe ich Ihnen eindeutig Recht, Herr Mark!

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
"Ich kann mich dran erinnern, dass Mitschülerinnen nach Hause geschickt wurden, weil Absätze zu hoch, Röcke zu kurz und Ausschnitte zu tief waren"

dadran kann ich mich aus meiner Schulzeit nicht erinnern.

Man könnte in so einem Fall ein pädagogisches Gespräch über dem Anlass angemessene Kleidung führen, dadrüber, was später auf dem Arbeitsmarkt erwartet wird (selten eine Bankangestellte in Hotpants gesehen etc) und so weiter. Weckt mehr Verstänsdnis als nach-Hause-schicken. So kann man die dumme Mathe-Arbeit relativ elegant umgehen...

Die Türkei wurde mir letztens auch von einer Kindergartenmutter als leuchtendes Beispiel erklärt. Und auch da verstand ich nicht so recht, was an dem Vorgehen lobenswert sein soll, da ich es für einen erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, der mit dem westlichen Verständnis von Individualität und freier Wahl nicht vereinbar ist, halte, wenn man Höchstrocklängen definiert oder mit einem Ruck an den Haaren überprüft, ob da nicht etwa eine Perücke statt eines Kopftuchs getragen wird.

mark793 am 19.Jul 12  |  Permalink
Ich danke Ihnen,
Frau tama, zumal es mir ja nicht so viel anders geht wie Ihnen. Ich kann auch den Pro-Argumenten manches abgewinnen und reklamiere für mich auch nicht, die letztinstanzliche und unfehlbare Antwort gefunden zu haben. Oder wie ich an anderer Stelle schrieb:

(...)zuviele Keulen werden da in allen Richtungen geschwungen, hie Gott gegen die Gottlosen, da Holocaust gegen Unversehrtheitsgrundrecht, Medizin gegen oder mit Folklore. Eigentlich fast “too much”, das alles zu würdigen und auseinanderzuklamüsern. An sich würde ich persönlich den Grundsatz der körperlichen Unversehrtheit in dieser Frage über die Freiheit der Religionsausübung stellen, die in ihrem konkreten Brauchtum der Beschneidung kleiner Jungs mit genanntem Grundsatz nicht vereinbar ist. Gleichwohl verkenne ich nicht, dass es Opportunitäten geben mag, diese Abwägung anders zu treffen und dabei auch nicht zuletzt auf die gesellschaftspolitischen Signalwirkungen zu verweisen. Etwa: Würde ein Verbot der Kleinkinder-Beschneidung ohne klare medizinische Indikation und aus religiösen Gründen xenophoben, antisemitischen Positionen in der Gesellschaft Vorschub leisten und wäre es aus diesen Grunden eher angezeigt, das mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit doch nicht so genau zu nehmen? Ich weiß es wirklich nicht, und fast bin ich ein bisschen froh darüber, dass ich in dieser heiklen Frage nicht zu entscheiden habe.

tama am 19.Jul 12  |  Permalink
Herr Mark
... was meinen Sie, wie froh auch ich bin, nicht in der Haut der Entscheidungsträger zu stecken!! (Ausnahmsweise - sonst ärger ich mich ja zuweilen darüber, aber dieses Mal...)

... Was nicht heißen soll, dass ich nicht minder gespannt bin, wie die ganze Sache wohl ausgehen wird: So oder so, es wird sehr aufschlussreich werden.

Frau Sturmflut hat auch ein recht interessantes Satement dazu verfasst.

@Cassandra:
Ob man auf diese Weise die Mathearbeit wirklich umgehen kann, vermag ich nicht zu sagen: Nachschreiben ist ja die Devise, also höchstens aufschieben (aber ich denke, dass wissen wir, also nicht so ernst nehmen). - Zweck war vielmehr, sich angemessen in Schale zu werfen.

Ich sehe sonst einen im Grunde einfachen Grund für die Absenz von Religion in staatlichen Gebäuden (nicht verwechseln mit öffentlich): Gleichheit.

Zudem gibt einem das die Illusion, dass Entscheidungen etc. auf der Grundlage rationaler Überlegungen getroffen werden - nicht jeder Gläubige, egal welcher Richtung, ist Extremist im Sinne von "Ich nehme mal alles wörtlich!" (Nicht im Sinne von: Ich schmeisse mal eine Bombe.) - aber die wenigen, die es sind, sind nur allzuoft wie die Köche.

Für mich ist Demokratie an sich, wenn es eben um den Staat geht, neutral in jeder Hinsicht - nur so wird gewährleistet, dass Bevorzugungen und Benachteiligungen weitesgehend vermieden werden. (Und wenn das doch mal auftritt, liegt es wohl daran, dass Politik manches Mal auch ein wenig langsam ist...)

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
Die Frage ist, was Neutralität ist:
"glaubt was ihr wollt, aber akzeptiert, dass der neben auch das nicht tut- ich als Staat gewährleiste im Zweifelsfall das Recht auf andersein desjenigen, der schwächer ist"
oder
"seit bloss still über das, was glaubt"

Ergebnisgerechtigkeit kann niemand garantieren, nur Prozessgerechtigkeit. Und das bedeutet, dass man mit Unterschieden leben muss (ich hätte es natürlich auch viel lieber, wenn alle so wären wie ich, aber....)

Es ist weder Bevorzugung noch Benachteiligung wenn jemand ein Kopftuch trägt. Oder es nicht tut.
Es gibt einen guten Grund, warum man auf seinem Passfoto keinen Niqab tragen kann: ein Foto dient der Identifizierung.


Ich bilde mir übrigens ein, dass ich trotz gläubig rationale Entscheidungen treffe. Wenn ich das Asylrecht zB zum Kotzen finde dann tue ich das als Katholikin. Die Wertung "schlecht" stammt aus meinem Wertehintergrund. Wir sind nicht alle irrationale Bibelschwenker, die das Feld unseres Nachbarn abfackeln wollen weil er zweierlei Frucht anbaut.
Entscheidungen werden durch das Gewissen geleitet- und da spielen bei mir die 10 Gebote zB eine grosse Rolle. Bei anderen sind es die Beschlüsse des XXIII Parteitags der KPdSU oder was er letzte Woche in der BILD gelesen hat. Ob das jetzt so viel "rationaler" ist...?

Politik ohne Gewissen? Nein danke.

tama am 19.Jul 12  |  Permalink
Oha, hier werde ich gerade ganz gründlich missverstanden.

Wie dem auch sei: Das führt nun alles zu weit vom Thema weg. Sonst halte ich es wie Kant; Philosophie und Gautama sind ohnedies genauso gute Anlaufstellen. Und an die halte ich mich eben, weil das mit meinem Gewissen besser vereinbar ist, als würde ich mich an Religion orientieren - deshalb jage ich religiöse Menschen aber nicht zum Teufel. Oder mich selber (Spirituelle sind bei manchen ja auch nicht besser angeschrieben.).

Nun driftet diese Diskussion allerdings tatsächlich zu weit ins Philosophische ab (Und ich vermute einfach mal spontan, dass Sie das mit Ihrem Ursprungsposting nicht bezwecken wollten.).

Von daher: "Das ist ein weites Feld."

cassandra_mmviii am 19.Jul 12  |  Permalink
Was ich (denke ich) sagen wollte war:

Leute, steht zu dem, was ihr glaubt. Was ihr für wichtig haltet nehmt auch wichtig und lebt das auch nach Aussen. Dann seit ihr glaubwürdig.
Vermittelt euren Kindern eure Werte, dann haben sie was, an dem sie sich abarbeiten können wenn sie sich selbst anfangen zu orientieren. Niemand kann sie in diesem Land zwingen alles so zu machen wie ihre Eltern, und das ist auch gut so.
Aber vergesst diesen "ich erziehe ganz neutral"-Kram, der klappt nämlich nicht.

Wir reden hier nicht von 25 Jungfrauen, die der Staat bitte jeden Neumond zwecks Opfer zur Verfügung stellen soll zwecks Gewährleistung der freien Religionsausübung, sondern spielen ein paar Ligen tiefer.

mark793 am 20.Jul 12  |  Permalink
Vielleicht sollten wir das Schlusswort
dazu jemandem überlassen, den es konkreter betrifft.

arboretum am 21.Aug 12  |  Permalink
Chronik einer beispiellosen Debatte
Die herrschende Meinung und die, die sie machten: Wie ein Rechtsprofessor, eine Staatsanwältin und ein Richter die Debatte um Beschneidung steuerten, über die diese Woche auch der Deutsche Ethikrat debattiert.

von Jost Müller-Neuhof

Dieser aufschlussreiche Artikel im Tagesspiegel vom 20. August 2012 könnte den ein oder anderen interessieren.